Entstehung & Geschichte

Die Geschichte von Manga und Anime: Höhepunkte vom Mittelalter bis heute

Manga wie wir sie heute kennen sind noch relativ jung; sie entstanden erst im 20. Jahrhundert. Die Ursprünge von gezeichneten Geschichten und Manga in Japan gehen aber viel weiter zurück.[1] Die Entstehungsgeschichte dieser einzigartigen Form von Comics und Zeichentrick hilft dabei, sie besser zu verstehen.

Bildrollen und Kibyoshi: erste Vorläufer

Wie in den meisten anderen Ländern dieser Welt geht auch in Japan die Geschichte von Schrift und Bild weit zurück.[2] Als erste tatsächlich für die Entwicklung des Manga relevante Kunst können jedoch die Kibyoshi betrachtet werden. Sie stammen aus der Edo-Zeit, dem japanischen Hochmittelalter (1600 – 1868). Kibyoshi waren kleine, gebundene Bücher, die Bildergeschichten mit ergänzendem Text enthielten. Das Bild war dabei im Vergleich zum Text das stärkere Medium, das die Erzählung trug. Ihr Inhalt war meistens lustiger oder volkstümlicher Art.[3] Da Japan während der Edo-Zeit vollkommen von der Außenwelt abgeschnitten war, entwickelte es seine ganz eigene Form der Kunst und Unterhaltung, die auch hierin ihren Ausdruck findet.[4]

Hokusai Manga: Der Name taucht auf

Die Bezeichnung „Manga“ begegnet in der Überlieferung das erste Mal beim Holzschnittkünstler Katsushika Hokusai, der seine eigenen Werke mit diesem Begriff bezeichnete. Sein Werk war sehr umfangreich und prägte eine kurze Zeit lang den Namen „Hokusai Manga“ (zur Bedeutung des Begriffs siehe Allgemein).[5] Er lebte gegen Ende der Edo-Zeit. Der Begriff „Manga“ konnte sich damit aber noch nicht halten und wurde die nächsten Jahrzehnte für nichts anderes außer Hokusais Werke verwendet, die keine Geschichte erzählten, sondern Bilder verschiedensten Inhalts (Natur, Tiere, Alltagsleben, Übernatürliches…) beinhalteten.[6]

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Abbildung 1: Hokusai Manga: Kaskaden

Das Ende der Edo-Zeit: Comics von Übersee

Erst am Ende der Edo-Zeit, 1868, öffnete sich Japan wieder für äußere Einflüsse. Zum ersten Mal gelangten auch westliche Comics und Karikaturen nach Japan.[7] In Japan wurden europäische und amerikanische Zeitschriften mit humoristischen und satirischen Inhalten veröffentlicht, die dort bisher vollkommen unbekannt gewesen waren und schnell Anklang fanden. Es entstanden japanische Pendants, die erst den westlichen Stil kopierten, dann aber einen eigenen entwickelten.[8] Eine besonders große Rolle spielte dabei das britische Satiremagazin Japan Punch, in dessen Nachahmung 1877 mit Marumaru Chinbun die erste japanische Satirezeitschrift erschien. Sie zeichnete sich durch eine sehr starke Verbindung von Text und Bild aus und erzielte hohe Auflagenzahlen.[9]

Sprechblasen und Comicstrips: Manga vor dem Zweiten Weltkrieg

Ende des 19. Jahrhunderts wurde der amerikanische Einfluss stärker als der europäische und brachte einen wegweisenden Einfluss mit sich: Sequenzielle Comicstrips, Comics also, die in einer Reihe von (damals meist vier) Bildern eine Geschichte erzählen.[10] Weitere Neuerungen, die aus den französischen Karikaturen und amerikanischen Comicstrips kamen, waren formaler Art: Die Einteilung in einzelne Bilder, also Panels, und die Verwendung von Sprechblasen.[11] Bis zu den 1920er Jahren hatte sich die Verwendung von Panels und Sprechblasen auch in den japanischen Zeitschriften durchgesetzt. Es entstanden die ersten japanischen Unterhaltungsmagazine, die Comicstrips enthielten.[12] Vier Bilder bildeten eine kleine Episode, „Komae“ genannt. Ihr Inhalt war in der Regel satirisch oder politisch orientiert. Es entstanden erste kleine Zeitungsfortsetzungsgeschichten. Aus dieser Zeit stammt es auch, dass die Bezeichnung Manga von den „Hokusai Manga“ auf diese humoristische Satire in Comicform übertragen wurde.[13]

Propaganda und Zensur: Manga zur Zeit des Zweiten Weltkriegs

Bereits in den 1930er Jahren wurden die sequenziellen Comicstrips in den Zeitschriften, die Komae, immer länger, was auf eine Entwicklung zu längeren Geschichten in Mangaform hindeutete. Auch gab es bereits damals die heute in Japan so präsente Unterscheidung der Zielgruppe nach Alter und vor allem Geschlecht.[14] Diese Entwicklung wurde jedoch unterbrochen, als die japanische Regierung ein Gesetz „zum Schutz des Friedens“ einführte, beeinflusst durch den Zweiten Weltkrieg, das vor allem auch Künstler kontrollierte und zensierte.[15] Diese Zensur brachte viele Zeichner, auch solche, die bisher nicht im Mangabereich tätig gewesen waren, zu den Comics für Kinder, da dies ein relativ ungefährlicher Bereich war, in dem sie ihre Arbeit fortführen konnten, wodurch die Zahl an Comics für diese Zielgruppe stark anstieg.[16] Während des Zweiten Weltkrieges wurden Manga, wie Elemente der Popkultur in fast allen Ländern zu dieser Zeit, für projapanische und antiwestliche Propaganda verwendet. Die Manga für Kinder stellten dabei keine Ausnahme dar, sodass das Repertoire zur Zeit des Zweiten Weltkriegs äußerst eingeschränkt war. Die vom Staat gewünschten Themen beinhalteten vor allem Werte wie Loyalität, Tapferkeit und Stärke.[17]

Zeichnerische Freiheit und Realitätsflucht: Japans Mangaboom in den 1940er Jahren

Das Ende des Zweiten Weltkriegs brachte dem Manga in Japan seine erste große Blütezeit. Dafür verantwortlich war einerseits, dass die Zensur unter der Okkupation der Alliierten wesentlich lockerer war als unter der vorherigen japanischen Regierung[18], und andererseits die Sehnsucht der Bevölkerung nach Ablenkung, die sie auf diese Weise bekam. Die humoristischen Magazine lebten wieder auf, ihre Manga-Anteile wurden immer größer.[19] Aufgrund der nach dem Zweiten Weltkrieg in Japan herrschenden Ressourcenknappheit kam neben den Magazinen ein anderes Medium auf: Das Kami Shibai, das Bilderbuchkino.[20] Die Hochzeit des Kami Shibai war zwischen 1945 und 1953. Zu dieser Zeit gab es über zehntausend Menschen, die als Kami Shibai Künstler arbeiteten, und etwa fünf Millionen Menschen am Tag sahen sich die Darbietungen an den Straßenecken an.[21]

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Abbildung 2: Ein moderner Kami Shibai Darsteller

Neben den Bilderbuchkinos wuchs mit der Verfügbarkeit der Ressourcen auch die Anzahl gedruckter Medien in den 1940er und 1950er Jahren stark an. Die ersten Zeitschriften speziell für Kinder und Jugendliche wurden gegründet, so beispielsweise 1948 die Zeitschrift Manga Shonen, die monatlich erschien und einen großen Manga-Anteil hatte.[22]

Osamu Tezuka: Die Entstehung des Story Manga


Abbildung 3: Osamu Tezuka beim zeichnen.

Die 1950er und 1960er Jahre begannen, Manga zu dem zu machen, was wir heute kennen. Die Geschichten, die die japanischen Comics ihren Lesern erzählten, wurden immer länger – der Beginn des über mehrere Buchbände gehenden Story Manga.[23] Sicherlich waren dafür mehrere Künstler und Faktoren verantwortlich, doch ein Mangaka (Mangazeichner), der besondere Erwähnung verdient, ist Osamu Tezuka. Ohne ihn wäre eine historische Darstellung von Manga und Anime nicht vollständig. Tezuka prägte den Story-Manga in einer Deutlichkeit, die ihresgleichen sucht.[24] Er wurde 1928 geboren und absolvierte nach dem Zweiten Weltkrieg ein Medizinstudium, war also eigentlich Arzt. Dennoch zeichnete er schon seit seiner Studienzeit kurze Mangastrips, die auch veröffentlicht wurden; sein Ziel war es jedoch, lange Manga zu zeichnen. Bereits 1947 gelang ihm sein erster Durchbruch: Er veröffentlichte „Die neue Schatzinsel“, einen Manga von insgesamt 200 Seiten, der zu einem Bestseller wurde.[25] Osamu Tezuka zeichnete beinahe ausschließlich Manga für Kinder. Seine bedeutendsten und heute noch bekannten Werke waren unter anderem Astro Boy (Tetsuwan Atomu) und Kimba, der weiße Löwe (Jungle taitei). Seine Werke beeinflussten die Mangaszene seiner Zeit maßgeblich.[26] Tezukas Berufung lag jedoch nicht nur im Manga, sondern auch im Anime, wo er uns wieder begegnen wird.

Kami Shibai und Gekiga: Manga für Erwachsene

Osamu Tezuka war nicht der einzige Faktor für die Entstehung des Story-Manga. Es gab eine weitere, bedeutende Entwicklung aus einer ganz anderen Richtung: von den Künstlern des Kami Shibai. Als in den 1950ern das Fernsehen in Japan populärer zu werden begann und wieder mehr gedruckte Manga erschienen, verlor das Bilderbuchkino seine Bedeutung. Die meisten seiner Künstler wechselten daraufhin zum Manga.[27] Beeinflusst durch die schnellen Bilder des Fernsehens und den besonders ausdrucksstarken Stil des Bilderbuchkinos entwickelten die ehemaligen Kami Shibai Künstler jedoch eine ganz andere Art von Story-Manga als die Mangaka um Tezuka. Ihre Inhalte waren graphischer, ernster und gewalttätiger, ihr Stil realistischer, und die Zielgruppe nicht Kinder, sondern Jugendliche und (junge) Erwachsene. Ihre Werke nannten sie selbst auch nicht Manga, sondern „Gekiga“, was so viel wie „dramatische Bilder“ bedeutet.[28] Dies führte dazu, dass in den 1950er und 1960er Jahren die Zielgruppe von Manga einerseits älter wurde und sich andererseits stark ausdehnte: ein erster Schritt dahin, dass heutzutage in Japan jede Zielgruppe Manga liest[29] – und das sogar so ausgeprägt, dass es sogar sogenannte „Silver Manga“ für Senioren gibt.[30]

Stummfilm und Märchen: Die Anfänge von Anime in Japan

Auch Anime begann in Japan erst einmal durch Einflüsse von außen: nach 1910 waren in Japan die ersten französischen und amerikanischen Zeichentrickfilme zu sehen. Der erste japanische Animationsfilm datiert auf 1917, noch in schwarz-weiß und ohne Tonspur. Das erste Animationsstudio in Japan wurde 1921 gegründet, drehte jedoch nur Kurzfilme und Propaganda für die Regierung. Erst in den 1950er Jahren begann in Japan der tatsächliche Aufschwung von Anime, gemeinsam mit der Einführung des Fernsehens. Das Animationsstudio Toei wurde 1951 gegründet und existiert bis heute. Im Jahr 1958 erschien mit Die weiße Schlange der erste Anime als Kinofilm und in Farbe. Er wurde ein voller Erfolg. Zwischen Manga und Anime bestand damals noch kein Zusammenhang; verfilmt wurden hauptsächlich Märchen und japanische Legenden. Erst in den 1960er Jahren richteten die Animationsstudios ihre Aufmerksamkeit auf Manga und die Mangaka ihre Aufmerksamkeit auf Anime – der Beginn einer Vernetzung, die heutzutage fast als Symbiose angesehen werden kann.[31]

Manga und Anime: Eine Vernetzung

An dieser Stelle begegnet uns Osamu Tezuka wieder. Sein Erfolgsmanga Astro Boy wurde im Jahr 1963 als erster Anime – damals noch schwarz-weiß – als Serie verfilmt[32] – und zwar von ihm selbst. Tezuka arbeitete erst bei Toei, dem ersten bedeutenden Animationsstudio Japans, gründete 1962 jedoch sein eigenes Animationsstudio. Astro Boy war die erste Produktion seines Studios und verlief sehr erfolgreich. Auch im weiteren Verlauf war er bei Neuerungen vorn mit dabei: Sein Manga Kimba, der weiße Löwe, wurde die erste farbige Animeserie in Japan.[33] Seitdem herrschte der meist sehr enge Bezug zwischen Manga und Anime, den man auch heute kennt: die meisten gut laufenden Manga wurden auch als Animeserien verfilmt, wobei es in der Regel eine enge Zusammenarbeit zwischen Mangaka und Produzenten gab.[34] Auch umgekehrt blieb der Anime nicht ohne Einfluss auf den Manga: Dass ab den 1960er Jahren viele Manga-Magazine wöchentlich statt monatlich zu erscheinen begannen, lag auch an dem Wunsch, mit den im Fernsehen wöchentlich ausgestrahlten Animefolgen mithalten zu können.[35]

Kinofilme statt Serien: Das Studio Ghibli

Trotz der ganz offensichtlich erfolgversprechenden Verbindung zwischen Manga und Anime gibt es einen für die Entwicklung von Anime bis heutzutage mit Sicherheit genauso bedeutenden Akteur, die hier auf keinen Fall unerwähnt bleiben darf: Hayao Myazaki. Er war Drehbuchautor, Zeichner, Regisseur und Designer und gründete nach einigen Filmen mit mehreren Studios sein eigenes Animationsstudio: Das Studio Ghibli.[36] Das Studio Ghibli widmete sich seit 1984 ausschließlich der Produktion von Kinofilmen.[37] Auch wer den Namen des Studios selbst nicht kennt, wird vermutlich von den von ihm produzierten Filmen schon einmal gehört haben: 1986 erschienen Das Schloss im Himmel und Mein Nachbar Totoro. Einer der größten Erfolgsanimes von Ghibli war mit Sicherheit Prinzessin Mononoke, der 1997 von über dreizehn Millionen Zuschauern in den japanischen Kinos angesehen wurde. Prinzessin Mononoke wurde für einen Oscar nominiert, gewann aber nicht – den ersten Oscar für das Studio Ghibli brachte 2003 der Anime Chihiros Reise ins Zauberland.[38]

Shojo: Frauen als Zeicherinnen und Zielgruppe

Das Aufkommen von Anime vergrößerte die Zielgruppe noch einmal. Waren Manga und Anime bisher hauptsächlich auf Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene männlichen Geschlechts ausgerichtet gewesen, so kam in den 1960er und vor allem in den 1970er Jahren das Genre Shojo – Manga und Anime für weibliche Leser – hinzu. Zunächst waren es Männer, die Mädchenmanga zeichneten, doch in den 1970ern trat die Gruppe 24, eine Vereinigung von 24 jungen weiblichen Mangaka, in den Vordergrund und zeichnete Manga von Frauen für Frauen und Mädchen.[39] Dies stellt einen letzten Schritt zu der für Manga und Anime so typischen allumfassenden Zielgruppe dar.

Allgegenwärtig: Manga und Anime in Japan bis heute

Die nächste und vielleicht größte Blütezeit hatten Manga und Anime in den 1980er und 1990er Jahren. In diesem Zeitraum erschienen zuerst Dragon Ball und Ranma ½, später Pokémon und Sailor Moon. Es kam zur Entwicklung von Game Manga, die wie beispielsweise Pokémon erst nach dem Erscheinen eines Spieles gezeichnet und geschrieben wurden.[40] Heute gehören Manga und Anime zu den wichtigsten Kultur- und Wirtschaftszweigen in Japan. Sie sind allgegenwärtig, nicht nur als Manga und Anime selbst, sondern auch in dem Ring aus Merchandising, der sie umgibt. Es gibt in Japan eigene Bibliotheken und Cafés für Manga, Museen und nach Mangaka benannte Straßen. Manga und Anime sind beinahe Teil der Allgemeinbildung. Sie nehmen damit in Japan eine wesentlich größere und umfassendere Rolle ein, als es Comics oder Zeichentrickfilme in anderen Teilen der Welt tun.[41]

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Geschichte von Manga und Anime im Westen

Ähnlich wie Manga und Anime in Japan früher von amerikanischen und europäischen Medien beeinflusst waren, kommen heute Manga und Anime in die USA und nach Europa und beeinflussen die dortige Comic-Kultur. Die größten Märkte für Manga und Anime im nicht-japanischen Ausland gibt es in Amerika, Frankreich, Belgien, Italien, Spanien und auch Deutschland.

Export unter Vorbehalt: Anime in den USA

Der erste japanische Anime, der in Amerika ausgestrahlt wurde, war bereits 1964, also nur ein Jahr nach seiner Entstehung, Astro Boy (Tetsuwan Atomu) von Osamu Tezuka, der uns auch hier wieder als Vorreiter begegnet. Es waren also Anime, die den Export in den Westen starteten, auch wenn den meisten Menschen in den USA in den 1960er Jahren gar nicht bewusst war, dass Serien wie Astro Boy oder Kimba the White Lion aus Japan kamen.[42] Erwähnenswert ist, dass amerikanische Produzenten aus den Original-Anime aus Japan teilweise sehr viel änderten, bevor sie in den USA ausgestrahlt wurden. Bis in die 80er Jahre hinein wurden teilweise sogar Serien kombiniert und umgeschrieben. Diese Änderungen fanden vor allem bei graphischer Gewalt (wobei hier anzumerken ist, dass diese damals vermutlich weitaus weniger schlimm war als vieles, das heutzutage in den USA gezeigt wird) und anti-westlich interpretierbaren Inhalten statt.[43]

Die amerikanischen Produzenten hielten es für notwendig, die Animeserien an amerikanische Serien anzugleichen, da sie annahmen, dass die Zuschauer sie sonst nicht ansehen würden.[44] Dies änderte sich erst mit der Ausstrahlung von Sailor Moon in den USA im Jahr 1995. In dieser Serie wurden zum ersten Mal die Namen und Umstände der Handlung japanisch belassen. Zwar wurde Sailor Moon noch kein voller Erfolg, läutete jedoch immerhin eine neue Zeit für Anime in Amerika ein.[45] Die Filme des Studio Ghibli, die größtenteils an eine junge Zuschauerschaft gerichtet sind, waren bereits seit den 1980ern in den USA recht verbreitet und wurden ohne größere Veränderungen übernommen.[46] Ab den frühen 2000er Jahren – also vor noch gar nicht allzu langer Zeit – begann sich auch in den USA Anime zunehmend an ältere Jugendliche und junge Erwachsene zu richten, was dazu führte, dass die Zensur im Bereich der graphischen Gewalt immer mehr nachließ.[47]

Nur für Kinder? Manga in den USA

Viele Menschen werden, wenn man über Comics oder Manga spricht, automatisch an ein Medium für Kinder denken. Gerade in den USA war dieses Denken eine lange Zeit sehr ausgeprägt. Comics und Zeichentrick waren grundsätzlich in den Augen der Amerikaner nur etwas für Kinder. So kamen relativ lang keine Manga in die USA, weil der recht ausgeprägte amerikanische Comicmarkt für Kinder und Jugendliche als gesättigt betrachtet wurde. Es waren die ersten Fans der Animeserien, die Manga nach Amerika brachten. Sie begannen, sich die zugrundeliegenden Mangabücher zu kaufen. Übersetzt wurden sie oft von japanischen Freunden, woraufhin die Übersetzungen innerhalb der Fanszene weitergegeben wurden. In den 1970er Jahren wurde diese Wendung auch von Verlagen bemerkt.[48] Spätestens als 1998 der Anime Pokémon in Amerika ausgestrahlt und zusammen mit dem Spiel populär wurde, hatten sich auch Manga etabliert.[49] Heutzutage gibt es in Amerika keinen Buchladen mehr, der nicht eine eigene Manga-Abteilung hat.[50]

Biene Maja und Heidi: Die unbekannten Anfänge von Anime in Deutschland

Auch in Deutschland waren es nicht Manga, sondern Anime, die sich zuerst ihren Weg ins Land suchten. Im deutschen Fernsehen liefen die ersten Animeserien bereits in den 1970er Jahren. Ihre Zielgruppe waren vor allem Kinder beiderlei Geschlechts. Einige von ihnen, wie beispielsweise Biene Maja im Jahr 1975, entstanden sogar in Kooperation mit dem deutschen Fernsehen, das zu dieser Zeit gern wegen der geringeren Produktionskosten Animationen in Japan herstellen ließ. Allerdings trat hierbei in Deutschland das gleiche Phänomen zutage wie in der Anfangszeit des Anime in Amerika: Die meisten Zuschauer wussten gar nichts davon, dass die Zeichentrickserien, die sie im Fernsehen ansahen, aus Japan stammten.[51] Gerade über Biene Maja, wie auch von den ebenfalls in den 70er Jahren in Deutschland im Fernsehen ausgestrahlten Animeserien Heidi und Kimba der weiße Löwe, wissen viele Menschen bis heute nicht, dass sie aus Japan stammende Anime sind, und halten sie für deutsche oder höchstens amerikanische Zeichentrickproduktionen.[52] Dafür verantwortlich war auch, dass die späteren Gründer des Studio Ghibli einige internationale Kinderbuchklassiker animierten, wie beispielsweise Anne mit den roten Haaren oder Peter Pan. So wurden die Animefilme in Deutschland nicht als japanisch wahrgenommen.[53]

Von Captain Future zu Sailor Moon: Anime in Deutschland bis Ende der 1990er Jahre

Dies begann sich in den 1980er Jahren zu ändern, als das ZDF erstmals auch eine etwas ältere Zielgruppe ins Visier nahm und mit dem Science-Fiction-Anime Captain Future eine Animeserie zeigte, die an Jugendlichen ausgerichtet war. Trotz (oder vielleicht auch wegen) des auch in Deutschland unternommenen Versuchs, die Serie durch Veränderungen an deutsche Standards anzupassen, war sie nicht sonderlich beliebt. Das Interesse der privaten Fernsehsender Deutschlands an Anime war jedoch geweckt. Der Sender Tele5 führte einen eigenen Programmblock für Anime ein und zeigte japanische Zeichentrickserien unverändert. Als im Jahr 1993 RTL2 den Animeblock von Tele5 übernahm, waren Anime bereits ein fester Bestandteil des Kinder- und Jugendprogramms im deutschen Fernsehen geworden.[54] Der wahre Durchbruch für Anime in Deutschland kam jedoch in den späten 90er Jahren, und zwar durch den gleichen Anime wie in den USA: Sailor Moon, der bei seiner deutschen Erstausstrahlung 1997 eine große Fangemeinde an sich binden konnte. Bis 1999 zeigte RTL2 auch Dragon Ball und Pokémon.[55] Für Animespielfilme trat das Studio Ghibli in Deutschland nur wenig später seinen Siegeszug an: 2001 lief mit Prinzessin Mononoke zum ersten Mal ein Anime im deutschen Kino.[56]

Eine neue Comic-Kultur: Die Anfänge von Manga in Deutschland

Im Vergleich zu beispielsweise Belgien, Frankreich oder den USA hat Deutschland eine wenig ausgeprägte eigene Comic-Kultur. Schon immer prägten daher Importe aus vor allem diesen Ländern das Bild von Comic und Zeichentrick in Deutschland. Dass Manga hinzu kam, ist noch immer eine relativ junge Entwicklung.[57] Erst 1991, als Anime in Deutschland bereits durchaus bekannt war, veröffentlichte der Verlag Carlsen mit Akira den ersten Manga, jedoch mit einigen Veränderungen zum japanischen Original: Er war gespiegelt, sodass er von links nach rechts, in der für Deutsche gewohnten Leserichtung gelesen werden konnte. Zudem waren die Seiten vor der Herausgabe in Deutschland in den USA nachträglich koloriert worden. Der Erfolg ließ jedoch zu wünschen übrig. Auch Egmont Ehapa, der zweite Verlag, der in Deutschland Manga herausbrachte, bezog seine Druckvorlagen von amerikanischen Verlagen und spiegelte sie. Auch hier zeichnete sich jedoch noch kein maßgeblicher Erfolg ab.[58] Auch der Printmanga zur erfolgreichen Serie Sailor Moon war noch nicht so erfolgreich, wie die Verleger es sich gewünscht hätten, öffnete jedoch einen ersten direkten Zugang zu Manga in Deutschland.[59] Zwei Jahre später, im Jahr 1997, veröffentlichte Carlsen mit Dragon Ball in Deutschland erstmals einen Manga, der nicht gespiegelt, sondern in der original japanischen Leserichtung erschien – und der Erfolg gab diesem Schritt recht. Dragon Ball läutete eine neue Zeit für Manga in Deutschland ein.[60] Wie Dragon Ball und Sailor Moon die Anime- und Mangakultur in Deutschland geprägt und verändert haben, können Sie unter Trends & Entwicklung erfahren.

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  1. Vgl. Ossmann, Andrea: Phänomen Manga: die Entstehungsgeschichte japanischer Comics und ihre Bedeutung für deutsche Verlage und Bibliotheken, Stuttgart 2004, S. 11.
  2. Vgl. Ebenda.
  3. Vgl. Ebenda.
  4. Vgl. Treese, Lea: Go East! Zum Boom japanischer Mangas und Animes in Deutschland, Berlin 2006, S. 25.
  5. Vgl. Ossmann: Phänomen Manga, S. 11.
  6. Vgl. Treese: Go East!, S. 24.
  7. Vgl. Ossmann: Phänomen Manga, S. 11.
  8. Vgl. Treese: Go East!, S. 26.
  9. Vgl. Köhn, Stephan: Traditionen visuellen Erzählens in Japan. eine paradigmatische Untersuchung der Entwicklungslinien vom Faltschirmbild zum narrativen Manga, Wiesbaden 2005, S. 200-201.
  10. Vgl. Treese: Go East!, S. 26.
  11. Vgl. Schodt, Frederik L.: Manga! Manga! The world of japanese comics, Tokyo u.a. 1983, S. 41.
  12. Vgl. Ossmann: Phänomen Manga, S. 12.
  13. Vgl. Köhn: Traditionen visuellen Erzählens in Japan, S. 202-207.
  14. Vgl. Treese: Go East!, S. 29-30.
  15. Vgl. Ebenda, S. 27.
  16. Vgl. Schodt: Manga! Manga!, S. 51.
  17. Vgl. Ossmann: Phänomen Manga, S. 12.
  18. Vgl. Schodt: Manga! Manga!, S. 60.
  19. Vgl. Ossmann: Phänomen Manga, S. 12.
  20. Vgl. Köhn: Traditionen visuellen Erzählens in Japan, S. 223.
  21. Vgl. Schodt: Manga! Manga!, S. 62.
  22. Vgl. Köhn: Traditionen visuellen Erzählens in Japan, S. 223-224.
  23. Vgl. Köhn: Traditionen visuellen Erzählens in Japan, S. 225-226.
  24. Vgl. Phillips, Susanne: Tezuka Osamu. Figuren, Themen und Erzählstrukturen im Manga-Gesamtwerk, München 2000, S. 13.
  25. Vgl. Ebenda, S. 19.
  26. Vgl. Ebenda, S. 186-187.
  27. Vgl. Ossmann: Phänomen Manga, S. 12.
  28. Vgl. Phillips: Tezuka Osamu, S. 23-24.
  29. Vgl. Treese: Go East!, S. 31 und 34.
  30. Vgl. Sturm, Michaela/Teich, Michaela: Faszination Manga und Anime. Der Erfolgskurs asiatischer Comics und Animationsfilme in Deutschland, Stuttgart 2006, S. 29.
  31. Vgl. Sturm: Faszination Manga und Anime., S. 83-87.
  32. Vgl. Schodt: Manga! Manga!, S. 154.
  33. Vgl. Sturm: Faszination Manga und Anime, S. 87.
  34. Vgl. Treese: Go East!, S. 47.
  35. Vgl. Köhn: Traditionen visuellen Erzählens in Japan, S. 242-243.
  36. Vgl. Sturm: Faszination Manga und Anime, S. 89.
  37. Vgl. Treese: Go East!, S. 47.
  38. Vgl. Sturm: Faszination Manga und Anime, S. 107-109.
  39. Vgl. Ossmann: Phänomen Manga, S. 13-14.
  40. Vgl. Ebenda, S. 14-15.
  41. Vgl. Ebenda, S. 15 und 19-21.
  42. Vgl. Schodt: Manga! Manga!, S. 154-155.
  43. Vgl. History of Anime in the US, abgerufen unter: https://www.rightstufanime.com/anime-resources-history-of-anime-in-the-us (letzter Zugriff 26.05.2019).
  44. Vgl. Davis, Jesse Christian: Japanese Animation in America and its Fans, Oregon 2008, S.11.
  45. Vgl. History of japanese anime on american television, abgerufen unter: https://honeysanime.com/editorial-tuesday-a-history-of-japanese-anime-on-american-television/ (letzter Zugriff 26.05.2019).
  46. Vgl. Treese: Go East!, S. 48.
  47. Vgl. History of japanese anime on american television.
  48. Vgl. Davis: Japanese Animation in America, S. 2 und 11.
  49. Vgl. History of japanese anime on american television.
  50. Vgl. Davis: Japanese Animation in America, S. 2.
  51. Vgl. Treese: Go East!, S. 55-56.
  52. Vgl. Sturm: Faszination Manga und Anime, S. 50.
  53. Vgl. Ebenda, S. 111.
  54. Vgl. Special: Geschichte des Animes in Deutschland, abgerufen unter: https://www.manime.de/news/anime/special-geschichte-des-animes-deutschland/008975/ (letzter Zugriff 26.05.2019).
  55. Vgl. Ebenda.
  56. Vgl. Sturm: Faszination Manga und Anime, S. 107.
  57. Vgl. Dolle-Weinkauff, Bernd: The attractions of intercultural exchange: Manga market and manga reception in Germany, Frankfurt 2006, S. 1.
  58. Vgl. Ossmann: Phänomen Manga, S. 55-56.
  59. Vgl. Sturm: Faszination Manga und Anime, S. 51-52.
  60. Vgl. Ossmann: Phänomen Manga, S. 30.

 

Davis, Jesse Christian: Japanese Animation in America and its Fans, Oregon 2008.

Dolle-Weinkauff, Bernd: The attractions of intercultural exchange: Manga market and manga reception in Germany, Frankfurt 2006.

Köhn, Stephan: Traditionen visuellen Erzählens in Japan. eine paradigmatische Untersuchung der Entwicklungslinien vom Faltschirmbild zum narrativen Manga, Wiesbaden 2005.

Ossmann, Andrea: Phänomen Manga: die Entstehungsgeschichte japanischer Comics und ihre Bedeutung für deutsche Verlage und Bibliotheken, Stuttgart 2004.

Phillips, Susanne: Tezuka Osamu. Figuren, Themen und Erzählstrukturen im Manga-Gesamtwerk, München 2000.

Schodt, Frederik L.: Manga! Manga! The world of japanese comics, Tokyo u.a. 1983.

Sturm, Michaela/Teich, Michaela: Faszination Manga und Anime. Der Erfolgskurs asiatischer Comics und Animationsfilme in Deutschland, Stuttgart 2006.

Treese, Lea: Go East! Zum Boom japanischer Mangas und Animes in Deutschland, Berlin 2006.

History of Anime in the US, abgerufen unter: https://www.rightstufanime.com/anime-resources-history-of-anime-in-the-us.

History of japanese anime on american television, abgerufen unter: https://honeysanime.com/editorial-tuesday-a-history-of-japanese-anime-on-american-television/.

Special: Geschichte des Animes in Deutschland, abgerufen unter: https://www.manime.de/news/anime/special-geschichte-des-animes-deutschland/008975/.